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Projekte

Der Waldmacher

(26.05.2016) Der Agrarexperte Tony Rinaudo verwandelt abgeholzte Steppen in grüne Wälder. Seine Methode könnte für Afrika bedeutender werden als Milliarden von Dollar Entwicklungshilfe - aus dem Tagesanzeiger.

Äthiopien: Hügel nach der Aufforstung. Bild: www.greenethiopia.org

Hier könnte man ohne weiteres «Heidi» filmen. Der Wildbach plätschert, Kühe mampfen saftiges Gras, ein Hirtenjunge blickt verträumt ins Tal. Nur die dunkle Haut des Knaben und zwei runde Grashütten verraten, dass sich diese Postkartenidylle nicht in den Alpen abspielt. Wir befinden uns in den Bergen nahe der südäthiopischen Stadt Sodo.

«Wenn Sie vor zehn Jahren hier gewesen wären, würden Sie noch viel mehr staunen», sagt Tony Rinaudo. Der freundliche australische Agrarexperte strahlt vor Glück: Als der 57-jährige Melbourner im Jahr 2006 nach Sodo kam, sahen die Berge aus wie nach einer Naturkatastrophe. Stachelige Büsche und Kriechpflanzen bedeckten die Landschaft, die Erosion hatte tiefe Furchen in die Abhänge gerissen, immer wieder stürzten Erdlawinen ins Tal.

In jener Zeit waren die Menschen in der Region Sodo auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen – genau wie im 50 Kilometer weiter südwestlich gelegenen Dörfchen Humbo, dessen Hausberg dem nackten Buckel eines Nilpferds glich. Tony Rinaudo war damals von der Hilfsorganisation World Vision nach Humbo geschickt worden, um eine der letzten noch fliessenden Quellen einzufassen. Doch der Agrarexperte sah schnell, dass die dortige Bevölkerung ein grösseres Problem als die nicht eingefasste Quelle hatte. Mit dem ständigen Abholzen der Bäume und dem Übergrasen der Weiden hatte sie ihre eigene Lebensgrundlage zerstört.

Bäume zu pflanzen, ist nicht nötig

Tony Rinaudo kannte ein ähnliches Problem von einem anderen Ort. 1980 war der Wald- und Wiesenfachmann von einer Mission in den westafrikanischen Staat Niger gesandt worden: Er sollte die sich ständig ausdehnende Wüste aufhalten. Rinaudo pflanzte jahrelang unzählige Bäumchen, die alle sofort wieder verdorrten. «Ich war verzweifelt», sagt der Missionar. Doch als Rinaudo wenig später die kümmerlichen Pflänzchen in der Halbwüste genauer studierte, merkte er: Bei den grünen Tupfern in der öden Landschaft handelte es sich nicht, wie er bisher angenommen hatte, um irgendein Kraut, sondern um die Triebe früher gefällter Bäume, die im Boden unter dem Halbwüstensand ein Geflecht an Wurzeln hinterlassen hatten. Der zerstörte Wald war in den Untergrund abgetaucht. Nach jedem Regen schlug das Wurzelgeflecht Triebe, die aber vom hungrigen Vieh rasch verschlungen wurden: Nie konnten die Sprösslinge zu richtigen Bäumen heranwachsen. Rinaudo erkannte, dass man den Wurzeltrieben eine Chance geben musste. Neue Bäume zu pflanzen, war überflüssig.

Rinaudos Entdeckung könnte für Afrika bedeutender als Milliarden von Dollar an Entwicklungshilfe werden. Kein Erdteil hat mehr Bäume verloren als der afrikanische: Äthiopien büsste in den vergangenen 50 Jahren 98 Prozent seines Waldes ein. Dabei sind Bäume die zweifellos wichtigsten Hüter der Erde: Sie wirken der Erosion entgegen, absorbieren Regenwasser, halten Feuchtigkeit im Boden, spenden Schatten, und manche von ihnen geben düngenden Stickstoff ab. Mit Rinaudos Entdeckung könnten Millionen von Hektaren Land, die zerstört vor sich hinvegetieren, wieder in fruchtbaren Boden, saftige Weiden und intakte Wälder verwandelt werden – und das praktisch gratis. Mit ihr könnte auch den Folgen der Klimaerwärmung begegnet werden, die Afrika besonders hart trifft. Das alles ahnte der heute 58-Jährige damals noch nicht, für ihn fing erst einmal die Knochenarbeit an.

Zunächst musste Rinaudo die nigrische Regierung davon überzeugen, die Bäume nicht länger als Staatseigentum in Anspruch zu nehmen, sondern zum Besitz der Bevölkerung zu erklären – so würden die Nigrer achtsamer damit umgehen. Bislang hatten sie ihre spärlichen Wäldchen zu Feuerholz zerkleinert und zu Holzkohle verarbeitet.

Als Nächstes musste Rinaudo beweisen, dass seine These der Praxis standhielt. Er zäunte ein Versuchsareal ab, um das Vieh draussen zu halten, und schnippelte die langsam heranwachsenden Büsche geduldig zu Bäumen zurecht. Schon wenige Jahre später war aus dem ödem Versuchsfeld ein Wäldchen geworden – heute stehen in der von Rinaudo betreuten Region im Niger auf jeder Hektare 45 statt 4 Bäumchen. Insgesamt ist ihre Zahl von 5 auf 200 Millionen in die Höhe geschossen.

Wenn es im Halbwüstenland Niger funktioniert hat, dann würde es auch im klimatisch wesentlich freundlicheren Süden von Äthiopien klappen, hoffte Rinaudo. Er musste nur die Bevölkerung von Humbo für sein Vorhaben gewinnen – und auf dem Nilpferd­buckel würden wieder Wäldchen spriessen. Das stellte sich komplizierter heraus als erwartet, denn die Leute von Humbo begegneten dem Fremden mit Argwohn. Sie hielten ihn für einen Scharlatan, der es in Wahrheit auf ihr Land abgesehen hatte. So musste sich Rinaudo zunächst mit einer einzigen kleinen Kooperative begnügen – heute zählt sie mehr als 5000 Mitglieder.

Zu seinen ersten Verbündeten zählte Katmar Anato, dessen Farm, die direkt am Fuss des Nilpferdbuckels liegt, oft von Erdlawinen überrollt wurde. Die Ernte war danach ruiniert. Anato hatte nichts zu verlieren und war bereit, Rinaudo eine Chance einzuräumen. Der Australier nutzte sie.

Nicht nur, dass von den wieder mit Bäumchen bewachsenen Hängen keine Lawinen mehr herabdonnern. Auch die Temperatur habe sich verändert, sagt Anato: «Man hat das Gefühl, hier in einem Kühlschrank zu sitzen.» Mit seinen Fruchtbäumen, Kaffeebüschen und Maisstauden sieht das Gut des Bauern heute aus wie ein grünes Paradies. Und das, obwohl es in diesem Jahr so wenig wie seit langem nicht mehr geregnet hat. In Humbo scheint die Hitze jedoch wesentlich weniger Schaden als im Umland anzurichten, was Rinaudo nicht wundert. Seine Messungen ergaben, dass die Bodentemperatur unter einem Baum selbst in der Mittagshitze bei rund 36 Grad verharrt, während sie auf dem freien Feld bis auf 71 Grad ansteigt. Vermutlich wirke sich der Baumbestand auch aufs Mikroklima aus. Rinaudo hat beobachtet, dass sich die Wolken über einer erhitzten freien Fläche verziehen, während sie über einem kühlen Waldstück abregnen.

Das Umland von Humbo ist auf Lebensmittelhilfe angewiesen, bis vor kurzem ging es auch Humbo nicht anders. Doch schon vor zwei Jahren konnte das Dorf 100 Tonnen seiner Maisüberschüsse an das Welternährungsprogramm der UNO verkaufen, heute lagern die Kooperativen 30 Tonnen Mais in ihren Speichern.

Für die Skeptiker des Projekts – allen voran die Köhler, die ihre Einnahmequelle gefährdet sahen – liessen sich der Entwicklungshelfer und sein äthiopisches Gegenüber Kebede Asafa etwas Besonderes einfallen. Sie boten den Holzbrennern eine alternative Berufsausbildung an: Einige wurden zu Friseurinnen umgelernt, andere zu Schneider, sie bekamen einen Salon und eine Nähmaschine. Mit seiner Schneiderei verdiene er heute deutlich mehr als zuvor, sagt der 24-jährige Wadu Henok: «Und es macht auch mehr Spass.»

Bald stellte die Bevölkerung des Distrikts fest, dass sie von der intakten Umwelt profitierte. Aus den geschützten Wäldchen kann heute mehr Holz geschlagen werden als vom kahlgeschlagenen Nilpferdrücken. Asafa und Rinaudo führten auch neue «Cash-Produkte» ein wie Apfelbäumchen oder Bienen, deren Honig auf dem Exportmarkt zehn US-Dollar das Kilo einbringt. «Das wollten die Leute zuerst gar nicht glauben», erinnert sich Asafa.

Klimasünder bezahlen die Aufforstung

Der letzte Widerstand wurde gebrochen, als die Bewohner Humbos vom «Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung», dem CDM, erfuhren, dem Finanzausgleich zwischen Umweltsündern und Öko-Initiativen aus der Dritten Welt. Unternehmen aus den Industriestaaten können ihren CO2 mit Zahlungen an Projekte in Entwicklungsländern ausgleichen, die etwa zur Wiederaufforstung beitragen. Seit 2010 bekommen die sieben Kooperativen in Humbo jährlich zwischen 35'000 und 70'000 US-Dollar – für hiesige Verhältnisse gigantische Summen. Das Geld wurde in einen Getreidespeicher, eine Maismühle und Bewässerungsanlagen investiert: Errungenschaften, von denen die Farmer noch lange profitieren werden.

Allerdings plagt auch eine Sorge Kebede Asafa. In den Wäldchen tummeln sich immer mehr wilde Tiere – Hyänen und Leoparden, die Viehbesitzer nerven; Stachelschweine und Affen, welche die Ackerbauern verärgern. «Wir haben schon schlimmere Probleme gelöst», beschwichtigt Rinaudo.

Inzwischen tritt die Methode des Australiers – die «Farmer Managed Natural Regeneration» (FMNR), wie sie unter Fachleuten genannt wird – einen Siegeszug durch Afrika an. World Vision veranstaltete Konferenzen, zu denen Interessierte aus zahlreichen Staaten kamen. Viele wollten Rinaudos Methode sogleich ausprobieren. Mittlerweile wird FMNR in mehr als 15 afrikanischen Staaten getestet, darunter im staubtrockenen Somaliland. «Während es in Niger wenigstens jährlich 400 Millimeter regnet», sagt Rinaudo, «fällt in Somaliland nicht einmal halb so viel Niederschlag.»

Sogar in Somaliland funktionierts

Ein Konvoi aus Geländewagen brettert durch eine glühend heisse Mondlandschaft. Während der achtstündigen Fahrt von der somaliländischen Hauptstadt Hergeisa zum Roten Meer sind nur ganz wenige Bäume auszumachen. Dafür immer wieder Kinder, die um Wasser betteln, oder die Kadaver verdursteter Ziegen und Kamele. Betagte Somaliländer erinnern sich, dass auf den Hügeln ihres international nicht anerkannten Landes einst Bäume wuchsen und Tiere grasten. Doch mittlerweile haben die Köhler alles kahlgeschlagen, eine Dürre jagt die andere. «Sollte es hier funktionieren», sagt Rinaudo, «dann klappt es überall.»

Vor uns taucht ein abgezäuntes Areal auf, dessen mannshohe Bäumchen von weitem zu erkennen sind. Das Versuchsfeld sieht nicht gerade blühend aus. Doch immerhin sind die Bäumchen grösser geworden, dazwischen wächst Gras. «In zwei Jahren sieht das schon besser aus», sagt Rinaudo.

Wenige Kilometer entfernt experimentiert auch Ibrahim Muse Elim mit der Methode. Er hält die Ziegen fern und lässt zwischen seinen Beeten Bäumchen wachsen. Früher habe er gedacht, dass die Bäume seinem Gemüse die Nahrung wegnähmen, sagt der 56-Jährige. Ibrahim verfügt über Grundwasser, für das er wegen der Dürre immer tiefer bohren muss. Am Rand seines Grundstücks hat er ein kleines Gewächshaus für Setzlinge errichtet. Mit der neuen Methode ernte er fast doppelt so viel wie zuvor, erzählt der Bauer: Inzwischen schicke er alle seine zehn Kinder zur Schule, dem ältesten finanzierte er kürzlich die Hochzeit.

Tony Rinaudo bückt sich zu einem Büschchen hinab, um mit seinem Klappmesser dessen Seitentriebe zu beschneiden. «Wenn ich so etwas höre», sagt der Waldmacher, «dann könnte ich weinen.»

Quelle: Tagesanzeiger

 

Lesen Sie hierzu auch: Äthiopiens grünes Wunder aus der Rubrik Projekte.

 

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